Mittwoch, 7. August 2013

Solidarität Ost

Ich wohne jetzt schon seit fast einem Jahr im "Östen", wie es bedenklich viele meiner Bekannten in Hessen bezeichnen. Seitdem habe ich dreimal eine urplötzliche Solidarität, ein ungeheures Gemeinschaftsgefühl erlebt - alles drei waren Situationen, die in ihrem Ursprungscharakter eigentlich sehr unangenehm sind.

Winter, Schneetreiben, irgendwo in Thüringen. 
Ich wollte eigentlich entspannt mit der Bahn von Köln nach Jena fahren, mit ICEs, ohne Verspätungen, mit bequemen Sitzen und all diesem Kram, den man sich von der Bahn unerfindlicherweise immer noch erhofft. Stattdessen verpasse ich natürlich direkt den ersten Anschlusszug, stehe an zugigen (und gleichzeitig besorgniserregend zuglosen) Bahnhöfen herum, gebe die Hoffnung auf ICEs auf und muss stattdessen thüringer Regionalzüge benutzen. Ein paar Stunden später stehe ich mit der Masse an einem eingleisigen Bahnhof irgendwo im Nirgendwo und wir alle fragen uns dasselbe: Wie zur Hölle sollen wir alle in diesen Zug passen, der sich uns gerade mit zwei graffitibeschmückten Wagen präsentiert. Zwei. Wagen. Die Masse besteht aus der Komplettbesatzung eines ICEs (mit etwa zehn Wagen). Auch ohne ausgeprägte Fähigkeiten im Bereich der räumlichen Vorstellungskraft ist schnell klar - das könnte kuschelig werden.
Was ich also erwarte: Ein erbarmungsloses Gedrängel mit knallhartem Einsatz von Ellbogen, sobald sich die Türen öffnen; eine unbequeme Sitz- oder wahrscheinlich eher Stehposition; genervte Menschen und schlechte Laune, die sich sofort auf alle Leute verbreiten wird, denn wenn man schon räumlich keinerlei Abstand mehr wahren kann, ist da auch kein Platz mehr für gute Laune.
Was geschieht: Ein erbarmungsloses Gedrängel mit knallhartem Einsatz von Ellbogen, sobald sich die Türen öffnen; eine unbequeme Sitz- oder wahrscheinlich eher Stehposition; genervte Menschen und schlechte Laune, die urplötzlich verfliegt: ein paar Leute am anderen Ende des Zuges haben eine Gitarre dabei, klimpern rum, singen "Über den Wolken" - und die Leute meckern nicht, sie gucken auch nicht peinlich berührt zur Seite, nein, sie singen mit. Alle. Sie schunkeln (wie auch immer, schließlich ist das Platzproblem noch immer nicht gelöst).
Wir alle wären eigentlich seit Stunden schon im warmen Zuhause, haben also allen Grund, richtig angepisst zu sein und stattdessen akzeptieren wir das jetzt einfach mal und singen nostalgische Lieder aus vergangenen Zeiten. Und sowas im Winter in Deutschland, dem Land, wo die Menschen angeblich sogar im Hochsommer kalt, perfekt organisiert und unspontan sind. Ich bin spontan begeistert.

Hochsommer, irgendwo an einer Raststätte kurz vor Berlin. 
Ich laufe mit einem Schild "A9, Leipzig, Jena, Erfurt" herum und hoffe, irgendwen zu finden, der mich wenigstens ein Stück mitnimmt. Was ich nicht hoffe, ist einen schon recht angetrunkenen Thüringer Musikverein zu treffen. Gibt es etwas schlimmeres als betrunkene Blasmusikvereine mit Lokalpatriotismus, wenn man selbst absolut komplett nüchtern ist? Eben. Naja, ich habe keinen Einfluss darauf, treffe also eben jenen Blasmusikverein, sie finden die Idee unglaublich lustig, eine Tramperin mitzunehmen. Ich denke mir "Was soll's?" und steige ein. Ein paar Minuten später denke ich mir "Auf was für einen Wahnsinn hab ich mich denn hier eingelassen?" Erst lehne ich das Bier ab, dann denke ich mir wiederum "Was soll's?" und mache mit. Irgendwann stehen wir im Stau und alle packen ihre Instrumente aus. Mit Instrumenten sind nicht Mundharmonika und Piccoloflöte gemeint: Zuerst reichen wir ein paar Trompeten von den hinteren Plätzen nach vorne, irgendwann drückt mir jemand eine Tuba zum Weitergeben in die Hand. Oha. Wir stehen eine Stunde lang rum und genauso lang werde ich mit Pauken und Trompeten (nein, okay, es war eine Große Trommel) an vergangene Zeiten im Blasorchester erinnert, erkenne die ein oder andere Polka und denke mir "Wie cool ist das denn?". Der Verkehr fließt bedeutend zäher als das Bier und der Verein beschließt, dass ich jetzt mal ein bisschen Thüringer Landeskunde lernen muss. Wir beginnen mit 60-prozentigem Pfeffi und hören beim Rennsteiglied auf. Irgendwann dazwischen findet jemand heraus, dass ich Klarinette kann und ich werde fest zur nächsten Probe erwartet. Ich bin ansonsten damit beschäftigt, abwechselnd den Kopf zu schütteln, zu lachen, und auf die Frage "Na, Mädchen, so ne Mitfahrgelegenheit hatteste noch nie, oder?" wiederum zu nicken. Verrückte Welt.

Immer noch Sommer, ein paar Tage später, statt auf der Autobahn lebe ich derzeit in der Bibliothek.
Wer viel reist, muss halt umso schneller sein im Hausarbeiten schreiben (und ja, das hier ist wohl mit Abstand die produktivste Form der Prokrastination, der ich in den letzten Tagen nachgegangen bin). Ich sitze also rum in meiner kleinen Lernkabine, die ich mir gemietet habe in der Hoffnung, dort bestimmt viel produktiver zu sein. Na klar. Sicherlich. Nicht. Ich sitze rum und da ist man einmal am Tag zufällig für fünf Sekunden bei Facebook online (na klar...) und bekommt folgende Nachricht:
"NORA. HARDCOREREGENBOGEN! KOMM! JETZT!!!!! SOFORT!"
Ich lasse meine hochproduktive Arbeit fallen, renne zum Fenster, staune, ärger mich ein bisschen, dass ich kein Smartphone oder irgendeine Kamera habe. Es ist nämlich wirklich ein Hardcoreregenbogen, der direkt im Sonnenuntergang aus einem der Berge neben Jena hervorzuwachsen scheint. Immer mehr Leute versammeln sich an der Fensterfront, ein Leidensgenosse neben uns sagt mit dramatischer Stimmlage und Geste: "Das ist das schönste, was ich in den letzten drei Monaten in dieser Bibliothek erlebt habe." 
Hach ja. Wir freuen uns alle noch ein bisschen über den schönen Regenbogen, dann kehrt jeder zurück zu seinen Youtube-Videos, sinnlosen Facebook-Gesprächen, Kopfkissen und tut so, als würde er hochintellektuelle Bücher lesen oder verfassen.